Wenn die Ordnung verloren geht

In diesen besonderen Zeiten wird jeder Tag zu einer Übung in Geduld und Vertrauen

Dieser Beitrag ist am 27.03.2020 in der online Ausgabe von derStandard.at erschienen.

https://www.derstandard.at/story/2000116097407/wenn-die-ordnung-verloren-geht

Heute fuhr ich zum Flughafen, um meinen Sohn abzuholen. Auf Anraten des österreichischen Aussenministeriums sollte er so schnell wie möglich die Heimreise aus Thailand antreten. Es ist schon seltsam, an einem Sonntagmorgen, im offensichtlich einzigen Auto auf einer der meist befahrenen Straßen Wiens unterwegs zu sein. Ich hätte mich freuen können, alle Spuren für mich alleine zu haben. Und dennoch vermisste ich den vertrauten Fluss des Verkehrs, der mir ein Gefühl von Sicherheit und Normalität vermitteln würde.

Im freien Spiel der Assoziationen lande ich an einem Ort, den ich wegen seiner Ähnlichkeit zu genau dieser Gesamtwahrnehmung unter anderen Umständen nicht erinnert hätte.

Trügerische Wahrnehmung

Als junger Präsenzdiener verbrachte ich im späten Frühjahr 1986 sonderbare Wochen an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei im Norden Niederösterreichs. Es war die Zeit kurz nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Damals so wie heute, wo ganz Europa im Bann der Covid-19-Pandemie steht, wurden die Grenzen streng kontrolliert. Wir jungen Soldaten im Wehrdienst wuschen, wie befohlen, den radioaktiven Staub von jenen Fahrzeugen, die der unsichtbaren Gefahr ausgesetzt waren. Das unverwechselbare Knackgeräusch des Geigerzählers übernahm die Funktion eines nicht vorhandenen Sinnesorgans und wurde über die Wochen zu einem vertrauten Begleiter.

An den entsetzten Gesichtern und dem leisen Schluchzen mancher Reisenden, wurde mir damals vor Augen geführt, dass es sich hier um einen realen Notfall handelt. Dennoch wähnte ich mich in einer trügerischen Sicherheit, da Körper und Geist den Ernst der Lage als solchen nicht wahrzunehmen vermochten. Eine leise innere Stimme wollte mir glaubhaft machen, dass alles nicht so schlimm wäre, obwohl mich der Geigerzähler wie ein Wachhund immer wieder vor der radioaktiven Gefahr warnte.

Es ist kein Zufall, dass ich mich mehr als dreißig Jahre später an diese Zeit zurückerinnere. Damals wie heute ist das unheilvolle Risiko mit reinem Spürsinn nicht zu erfassen. Die unsichtbaren Viren entziehen sich der Sinneswahrnehmung und der Organismus wähnt sich in trügerischer Sicherheit. Gäbe es nicht diesen Zweifel an der angespannten, atypischen Stille, die sich über das öffentliche Leben ausgebreitet hat. Was damals der Geigerzähler war, ist heute ein über die Jahre gewachsenes Bewusstsein in Bezug auf das Vorhandensein einer inneren und äußeren Ordnung. Diese scheint sich im Moment fundamental zu verschieben.

Ein Gefühl der Unwirklichkeit gegenüber der Umwelt macht sich breit. Die Straßen muten leblos an. Bin ich tatsächlich der einzige Fahrer weit und breit, der gerade den Schranken zum Abflugterminal des Flughafens passiert hat? Und wo sind all die Menschen an diesem sonst so rastlosen Ort der An- und Abreise geblieben? Nur die zahllosen, am Boden geparkten Flugzeuge, wirken wie stumme Zeugen einer fundamentalen Unbeständigkeit, die auch vor der internationalen Geschäftigkeit und Grenzenlosigkeit keinen Halt macht. Ich finde mich abermals in der bizarren Wirklichkeit einer Ausnahmesituation wieder, für die Wissenschaft, Medizin und Politik lediglich dem Verstand eine plausible Erklärung zu liefern scheinen.

Im Zustand der Ungewissheit

Wir alle werden gerade auf die Probe gestellt. In einer aus den Fugen geratenen Welt ist es nur allzu verständlich, wenn sich der Wunsch aufdrängt, dass es wieder so werden möge, wie vor diesem Ausnahmezustand. Somit wird in diesen besonderen Zeiten jeder Tag zu einer neuen Übung. Für jene von uns, die nicht an vorderster Front der Pandemie kämpfen, besteht sie aus der schlichten Aufforderung, innezuhalten, zu entspannen und zuzulassen. Wir sind eingeladen, unsere innere Ordnung auf die neuen Gegebenheiten abzustimmen. Dies erfordert Geduld und Vertrauen. Da niemand so genau weiß, wie lange dieser Zustand der Ungewissheit andauern wird, bleibt uns nur die Möglichkeit, von Moment zu Moment zu leben. Wir können Pläne für die Zukunft schmieden, jedoch gibt es keine Gewissheit, dass sie sich erfüllen werden.

Für viele ist der Alltag zur komplexen Aufgabenstellung geworden. Er fordert ein neues Maß an Rücksichtnahme auf andere Menschen und große Flexibilität im Umgang mit unvorhergesehenen Anforderungen. Die Umstände drängen uns förmlich dazu, nachdenklich zu werden, angesichts der unveränderlichen Gegebenheiten.

Auch unsere unmittelbaren menschlichen Beziehungen werden auf vielen Ebenen neu definiert. Wenn wir keinen Abstand halten, bringen wir uns und andere in Gefahr. Wenn wir krank sind, geraten wir leicht in die Isolation. Viele von uns erleben sich in zwischenmenschlichen Begegnungen jenseits der vertrauten vier Wände unsicher, vorsichtig, ängstlich. Randgruppen gehen in den Widerstand, bei dem Gedanken daran, sich den neuen Regeln unterzuordnen, und werden so zu einer potenziellen Bedrohung für die Gemeinschaft. Vieles, was uns vertraut ist, fällt weg oder verkehrt sich in sein Gegenteil. Die Gemeinschaft der Menschen erfährt weltweit eine Welle von kollektivem Stress, der kaum eine Seele unberührt lässt. Wenn dann noch der Verlust des Arbeitsplatzes oder schwere Krankheit hinzukommen, nimmt die gefühlte Gefahr schnell eine existenzbedrohende Dimension an. 

Mit der Anspannung leben

Dies alles erzeugt Anspannung im Körper und in den Gedanken, für die wir uns nicht zu schämen brauchen. Wichtig ist, dass wir sie als zutiefst menschliche Antwort auf eine bedrohliche Realität zulassen und uns allmählich damit anfreunden, dass sie nicht so schnell weichen wird. Dies ist keine einfache Übung, denn Unruhe und Sorgen lassen sich durch Zurufe von innen oder außen nicht vertreiben. Hier kann es hilfreich sein, die Aufmerksamkeit auf all jene Bereiche des Lebens zu lenken, die Stabilität und Sicherheit vermitteln – liebe Menschen, ein Haustier, ein Spaziergang an der frischen Luft. Besonders hilfreich mag es sein, für kurze Momente am Tag die Augen zu schließen, den Atem wahrzunehmen und den Körper zu spüren. Auf diese Weise wird das absichtsvolle Nicht-Tun zu einer nützlichen Praxis, die stets zur Verfügung steht.

Wir sind eingeladen, diese besondere Zeit anzunehmen, so gut es geht. Darin erkenne ich auch eine große Chance. Denn diese besonderen Augenblicke im Leben führen uns die Einzigartigkeit und Kostbarkeit all dessen vor Augen, was wir ansonsten für selbstverständlich gehalten haben – Familie und Freunde, eine Gesellschaft die Sorge für uns trägt und die Möglichkeit, uns frei und uneingeschränkt in der Welt bewegen zu können. So verstehe ich diese Tage als eine Gelegenheit, mich in schlichter Dankbarkeit zu üben.

Mein Sohn ist heil nach Hause gekommen. Ich freue mich, dass wir als Familie wieder näher zusammen gerückt sind, Zeit miteinander verbringen können, die wir ansonsten nicht gehabt hätten. Ich denke öfter an meine Freunde und rufe sie auch an. Und allmählich stellt sich wieder so etwas wie eine unerwartete und dennoch vertraute Ordnung ein, inmitten einer Zeit der großen Veränderung. (Thomas Zaussinger, 27.3.2020)