Gestern noch saß ich am Platz vor dem Tempel auf einer Bank, um voller Interesse den bunten Kreis von Menschen, der sich zu laut aus einem Lautsprecher schallender Musik auf eigentümliche Weise gegenläufig zueinander drehte, zu beobachten. Kleine Kinder, Frauen in bunten Saris und Männer in legerer Alltagskleidung gaben sich vergnügt einem verspielten und bezaubernden Tanz hin. Meine Kamera versuchte vergeblich das festzuhalten, was sie in schwachem Licht noch erfassen konnte und fror gleichermaßen die unentwegte Bewegung in ein statisches Bild ein, gerade einmal einen Augenblick erhaschend, während sich der Kreis immer während weiter bewegte. Wie vergeblich war der Versuch doch gewesen, die Lebendigkeit des Moments festhalten zu wollen. Deutlich konnte ich die Freude der Menschen spüren und saß noch für ein lange Weile dort, während ich von der Musik und der Leichtigkeit der Atmosphäre inspiriert, sanft in einen indischen Tagtraum fiel.
Heute, nachdem ich meine leichte Abendmahlzeit eingenommen hatte, gehe ich wieder am Tempel vorbei, biege nach kurzem Zögern rechts ab, durchschreite den schmiedeeisernen Bogen zum Vorplatz und nehme abermals auf der einfachen Bank Platz. Ich versuche noch einmal ein Bild mit der Kamera zu machen und trete nahe an die Stufen heran, die zu der überdachten Tanzfläche führen. Als mich ein älterer Mann an meiner Hand schnappt, habe ich bereits jegliche Entscheidungsmöglichkeit verloren, mich aus dieser Situation noch retten zu können. Er drückt mir zwei bunte Holzstäbe so genannte Dandiya Sticks, von zwei Fuß Länge in die Hand und zieht mich in den lebendigen Kreis hinein. So werde ich von einer Sekunde zur anderen Teil des Dandiya Raas Tanzes, der anlässlich der neuntägigen Feierlichkeiten zum Navratri-Fest in ganz Indien veranstaltet wird und ursprünglich aus dem Gujarat stammt. Nach und nach lerne ich die Bewegung und ordne mich dem Rhythmus der Gruppe unter. Im Takt zur Musik schlage ich zuerst den linken Stock in einer Rückhandbewegung nach links und dann mit der rechten Hand nach rechts auf den Stock des Gegenübers. Während sich mein ganzer Körper rhythmisch um die Hüften bewegt, schlage ich meine beide Stöcke zu meiner rechten aufeinander und dann auf die beiden Stöcke meines Gegenübers, indem ich nach links oben aushole. Wenn das Denken wegfällt, dann mache ich alles richtig. Nach jeder Einheit wandert man einen Schritt nach vorwärts und spielt das Spiel mit einem neuen Mann, einer neuen Frau, einem Kind. Da es sich um zwei gegenläufige Kreise handelt, begegne ich unentwegt neuen Menschen und tausche manchmal verlegene, dann wieder entschlossene Blicke mit ihnen aus, bücke mich zu den kleinen Kindern hinunter, um mich sogleich wieder aufzurichten und einer älteren Inderin in Sari mit meinen Stöcken die Ehre zu erweisen. Die Männer schlagen kräftig und dynamisch, deuten Schläge nur an und spielen mit der Energie, während die Frauen weniger energisch, jedoch mit der selben Freude, Schlag um Schlag austauschen.
Wie immer in Indien werde ich auch gerne als Attraktion benützt und so werden Fotos von mir und den Festgästen gemacht. Bevor eine Tanzpause eingelegt wird, schleppt ein älterer Mann noch seinen Freund in meine Nähe, um einen letzten zögerlichen Stockschlag mit mir auszutauschen, der noch mit der Kamera festgehalten werden muss.
Heute ist der 3. Oktober 2014 und der Höhepunkt des Navratri Festes wird im ganzen Land als ein offizieller Feiertag begangen. Von diesem ist jedoch rein formell nichts zu merken. Alle Geschäfte haben geöffnet, die Handwerker höre ich von der Baustelle um die Ecke hämmern, lediglich der Verkehr kommt mir ruhiger vor. Alle Autos, Motorräder und Tuktuks sind mit bunten Blumengirlanden verziert, an der Kühlerhaube, am Lenkrad.
Der neunte und letzte Tag ist auch als Mahanavami bekannt. Nachdem ich vor zwei Tagen so freundlich eingeladen wurde, noch einmal beim Tempel vorbeizukommen, treffe ich dort am Abend nach Einbruch der Dunkelheit ein und setzt mich wieder auf eine Bank. Nach zehn Minuten erkennt mich ein soeben noch ganz in den Tanz vertiefter junger Mann wieder, deutet mir, dass ich kommen solle und begrüßt mich mit seinem breiten Lächeln. Mit den Dandiya Sticks in der Hand fange ich zu tanzen an und bewege mich, Stockschläge austauschend, unentwegt von einem Menschen zum nächsten. Heute sind alle hier festlich gekleidet! Besonders die jungen Frauen sehen in ihren Anarkali-Suits einfach unglaublich bezaubernd aus. Ich tanze und tanze, eine gute Stunde lang und teile die echte Freude, die mir hier begegnet mit allen Anwesenden. Die laut schallende Musik, die vielen Menschen, welche wohl die Lieder gut kennen müssen, da sie so zahlreich mitsingen, die Abfolge von Momenten verdichtet sich unentwegt und ich spüre einen Anflug von Trance in mir aufkommen. Wenn da nicht immer wieder die kleinen Kinder wären, die mir auf ihre unschuldige Weise ihre Stöcke entgegen schmettern, so dass ich aufpassen muss, nicht auf den Fingern getroffen zu werden.
Der ausgelassene Abend wird mit einer Puja zu Ehren der Göttin Durga abgeschlossen. Öl-Lampen werden entzündet und die versammelte Menge beginnt wohl ein religiöses Lied zu singen, begleitet von lautem Trommeln und rhythmischem Klatschen. Lange noch sitze ich mit ein paar Männern zusammen und wir unterhalten uns über die Dinge die man teilt, wenn man sich erst vor Kurzem kennengelernt hat. Ein wie mir vorkommt sehr gut situierter Mann in Pension, der gerade aus Amerika von seiner Tochter gekommen war, lädt mich zu sich ein und gibt mir noch seine Telefonnummer. Viele meiner neuen Bekannten werde ich bald wieder treffen, da ich bereits die nächste Einladung zu einer Zeremonie anlässlich des bevorstehenden Neumondes bekommen habe.