Slumdog Millionaire

Auf der Brücke, die über eine Hauptbahn-Linie von Mumbai führt, erhalte ich die letzte Anweisung von meinem Guide Ganesha, dass ich ab sofort keine Fotos mehr machen dürfe. Die Menschen hier würden sich ansonsten wie im Zoo vorkommen, obwohl sie einer geregelten Arbeit nachgingen, ihre Kinder zur Schule schicken würden, und überhaupt, weil es so viele Vorurteile in Bezug auf Slums gäbe, die alle haltlos wären.

Mumbai ist eine unglaublich große Megacity, hier leben alleine im Kern-Stadtgebiet um die 25 Millionen Menschen und hier im größten Slum von Indien vor dessen Eingangspforte ich nun stehe wahrscheinlich eine Million Menschen, so genau weiß das niemand. Die Bevölkerungsdichte dieser Stadt wird erst dann erfahrbar, wenn man sich vor Augen hält, dass hier im Slum Dharavi diese eine Million Menschen auf gerade einmal 2 km² haust.

Ganesha mein Guide ist im ältesten Slum der Stadt groß geworden und verdient sich nun sein Geld, indem er mit fünf anderen jungen Männern geführte Slumtouren anbietet. Der Leser fragt sich vielleicht, welches Motiv einen Touristen in ein Slum führen würde. 

Slums gehören zum Stadtbild von Mumbai so wie die Häuser der Gründerzeit in Wien. Sie sind integraler Bestandteil der Stadt, ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und Lebensraum für Millionen von Menschen. Aus diesem Grund beginne ich meine Exploration der Stadt auf diese Art und Weise.

Mein erster Eindruck ist, dass es hier nicht so schlimm aussieht wie angenommen, viel Wellblech und einfachste Behausungen, aber ansonsten wirken die Menschen hier wie anderswo, sind sauber gekleidet und ich fühle mich sicher. Ganesha führt mich in eine Seitengasse und erklärt mir, was meine Augen nur von Bildern aus dem Fernsehen kennen, von Schockreportagen aus Afrika und China. In diesem Teil des Slums werden Kunststoffabfälle kleingehackt, zerschnipselt und farblich sortiert. Wir zwängen uns durch eine enge Gasse, ein LKW bringt frische Säcke voll von Plastikabfällen, schwarze und graue  Innereien von Gerätschaften. In den winzigen Werkstätten wird gehackt, sortiert, geschreddert und eingeschmolzen. Zwei Arbeiter stehen vor großen blauen Tonnen und waschen die kleinen Kunststoff- Stücke in einer schwachen Lauge (ohne Handschuhe), entfernen letzte Reste von Staub und Dreck. Das schmutzige Wasser rinnt in einem offenen Kanal entlang der Strasse ab und wenn es den Weg bis zum Fluss schafft, denn würde es dort eingeleitet werden. Jetzt verstehe ich, was mit all dem Mist den auch wir produzieren passiert. Er wird an Orten wie diesen recycelt und in einen neuen Rohstoff verwandelt. Die ganze Welt liefert Mist hierher.

Ganesha erklärt mir, dass die Männer hier jeden Tag 150 Rupien verdienen, meist würden sie auf Akkord arbeiten. Die Miete für ein Slumzimmer beträgt um die 2000 Rupien pro Monat. Ich erfahre, dass in dem Raum den ich gerade betrete vier bis acht Personen wohnen würden. Der Raum hat gerade einmal 12 m². Hier würde gekocht, gewohnt und geschlafen werden. Wie ich später erfahre hat die Stadt in diesem Slum öffentliche Toiletten errichtet. Tausend Menschen teilen sich hier gerade einmal ganze sieben Toiletten. Eine von tausend Familien kann es sich leisten einen privaten Sanitärbereich einzurichten.

Ich kann es nicht fassen was ich hier sehe, zu unwirklich erscheint mir alles, ich fühle mich wie auf einem anderen Planeten, in einer anderen Zeit. Es ist unglaublich heiß und schwül. Dazu überall die schlechte Luft, die giftigen Abgase von den Chemikalien der vielen kleinen Betriebe hier. 

Mein Auge erkennt vor allem harte Kontraste. Alles ist scharfkantig, eng, man  muss unglaublich aufpassen wohin man tritt, dann muss ich mich schnell bücken, weil ein Stahlteil in Augenhöhe auftaucht. Wir durchqueren Gassen die ein dicker Mensch nicht mehr passieren könnte, so eng ist es hier im Slum. Im Schatten ist es zwar deutlich angenehmer als auf den breiteren Wegen, aber der Gestank den ich hier einatme raubt mir den Atem und bald auch die Sinne. Auch verliere ich jede Orientierung und bin sehr sehr froh, dass mich jemand sicher durch diesen Dschungel führt. Nach einer Stunde Slumtour bin ich verschwitzt und stinke nach Rauch. 

Wir befinden uns jetzt im Bereich der Töpfer und der Töpferbrennereien. Die schönen von Hand geklopften Töpfe werden in Freiluft-Öfen gebrannt. In so einem Ofen finden um die 200 Töpfe Platz. Sie werden gestapelt und dazwischen mit alter Roh-Baumwolle hinterfüllt. Begrenzt wird der Ofen lediglich durch eine meterhohe Ziegelmauer. Bis die Töpfe fertig gebrannt sind, dauert es wahrscheinlich Stunden, denn die Baumwolle glimmt langsam vor sich hin, entwickelt unglaublich viel Rauch, der sich überall in der Umgebung niederlässt.

Ich halte mir mein Shirt vor die Nase, so dicht ist der Rauch hier und jetzt bemerke ich auch wie sich meine Bronchien verengen. Erste Gefühle von Platzangst tauchen auf.

Wie überall sind die Kinder heiter, sprechen mich an und zeigen mir was sie alles können. 

Ich frage Ganesha, weshalb mich Kinder und Erwachsene bitten würden, mit ihnen auf einem Foto abgebildet zu werden. Seine Antwort ist ehrlich und heiter zugleich. Diese Fotos hätten deshalb einen so großen Stellenwert, da sich die Protagonisten darauf mit der Unwahrheit schmücken würden, dass der weiße Mann neben ihnen niemand Geringerer als ein berühmter Filmstar aus Amerika wäre. 

In den Slums wohnen nicht nur arme Menschen, sondern auch solche die hier aufwuchsen, eine Ausbildung genossen und gute Jobs in der Stadt hätten. Die Slums wären ihre Heimat, welche sie nicht verlassen würden. Shailesh der Gründer des kleinen Touristen-Unternehmens mache auch gerade seinen PhD in Chemie, erzählt mir mein Guide.

Im Laufe der Tour beobachte ich noch Menschen dabei, wie sie in einem kleinen stickigen Zimmer mit hektisch laufendem Deckenventilator Kurtis, indische Mäntel, nähen. Die Nähmaschinen werden so schnell bedient, dass sie sich wie Maschienengewehrsalven anhören. Ich werde sehen, wie Leder geglättet, mit Lack besprüht und dann zu teueren Taschen verarbeitet wird. Oder ich werfe einen Blick in eine Werkstatt, die moderne Trolleys produziert.

Soeben ging ich noch durch die engen Gassen in welchen Slumdog Millionaire gedreht wurde, jetzt stehe ich vor einer riesigen stinkenden Müllhalde.

Nach über zwei Stunden in einem der größten Slums der Welt bin ich froh, dass ich nicht hier geboren wurde, hier nicht leben muss. Einerseits verspüre ich grosse Dankbarkeit, dies alles einmal mit all meinen Sinnen erlebt zu haben, andererseits möchte ich nur weg, weit weg.